Das Problem

Gemeinnützigkeit auf Abruf

Aufgrund der mehrdeutigen Rechtslage haben die Finanzämter einen großen Interpretationsspielraum (nachgewiesen unter anderem in unserer Finanzamts-Studie). Für die Organisationen ist nicht vorhersehbar, ob und wann ihre politischen Aktivitäten ihren Status der Gemeinnützigkeit gefährden. Sie sind von den in der Praxis sehr unterschiedlichen Auslegungen ihres lokalen Finanzamtes abhängig.

Diese Unsicherheit wird noch verstärkt, da die Bescheide nur „unter dem Vorbehalt der Nachprüfung“ ergehen. Ändert sich die Einschätzung im Finanzamt, kann die Gemeinnützigkeit mit Wirkung für die letzten zehn Jahre entzogen werden. Es drohen die Nachversteuerung der Einnahmen und die Spendenhaftung – und damit Nachzahlungen, die ein Vielfaches des Jahresbudgets der jeweiligen Organisation betragen können.

Derzeit prominentes Beispiel: Das Finanzamt Frankfurt erkannte Attac im April 2014 die Gemeinnützigkeit ab. Attac legte dagegen Einspruch ein, klagt, gewinnt erst vor dem Finanzgericht; das Urteil wird vom Bundesfinanzhof Anfang 2019 aufgehoben. Attac wartet nun auf eine Entscheidung des Verfassungsgerichts. (Mehr dazu hier.)

Viele Organisationen möchten nicht, dass ihre Auseinandersetzung um die Gemeinnützigkeit öffentlich wird, da sie um das Vertrauen von Unterstützern fürchten und den Streit mit dem Finanzamt nicht eskalieren möchten. Solche Beispiele haben wir typisiert dargestellt. Seit dem Attac-Urteil des Bundesfinanzhofs machen mehr Vereine ihre Fälle öffentlich.

Politische Willensbildung ist von allgemeinem Nutzen

Es gibt eine breite gesellschaftliche und parteipolitische Übereinstimmung, dass die Zivilgesellschaft unverzichtbarer Bestandteil unseres Gemeinwesens ist. Konsens ist eben­falls, dass politisch aktive Organisationen für die Gesellschaft unverzichtbare Funktio­nen übernehmen: Sie sind Anwalt für gesellschaft­liche Themen, sorgen für deren brei­te Erörterung in Medien und Gesellschaft. Sie dienen so der politischen Willensbildung. Sie decken Missstände auf. Sie bieten Dienstleistungen an, organisieren Selbsthilfe und Solidarität und sie treten als Mitt­ler auf zwischen Bürgerinnen/Bürgern und Politikerinnen/Politikern.

(Siehe auch “Charta für Zivilgesellschaft und Demokratie“!)

Bedürftigen zu helfen ist genauso nützlich, wie sich für bessere Bedingungen Bedürftiger einzusetzen. Es ist ebenso richtig, Bäume zu pflanzen, wie Abholzungen in Frage zu stellen. Kinder werden so selbstverständlich zum Frieden erzogen, wie die Sinnhaf­tigkeit militärischer Einsätze hinterfragt werden muss. An vielen Stellen zeigt sich, dass diese Debatten erwünscht sind: Zivilgesellschaftliche Organisationen werden vom Staat aufgefordert, sich an der politischen Willensbildung zu beteiligen, etwa durch Einladungen von Umweltverbänden ins Umweltministerium oder bei runden Tischen vor Ort von Parteien, Stadtverwaltung und Organisationen.

Immer, wenn dieses politische Engagement selbstlos die Allgemeinheit fördert, muss sich das auch in der steuerlichen Behandlung niederschlagen.

Zivilgesellschaft ist Teil einer demokratischen Gesellschaft

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Steuerbefreiung für gemeinnützige Organisationen eingeführt wurde, bezog sich Gemeinnützigkeit vor allem auf die Wohlfahrtspflege. Politik wurde ausschließlich als Sache der Par­teien und der gesellschaftlichen Eliten angesehen. Die Gesellschaft ist heute eine ganz andere: Sie ist demokratischer geworden. An der politischen Willensbildung wirken neben den Parteien ebenso Organisa­tionen der Zivilgesellschaft mit und bringen zusätzliche Perspektiven ein. Dieser Entwicklung trägt das geltende Recht nicht ausreichend Rech­nung.

Insbesondere der Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO), ausschließlich von der Regierung ohne Mitwirkung des Parlaments erlassen, genügt den Anforderungen an ein demokratisch ausgerichtetes Gemeinnützigkeitsrecht nicht. Das zeigt sich beispielhaft, wenn dort in Nr. 16 zu § 52 AO bestimmt wird, dass die “Beschäftigung mit politischen Vorgängen … gegenüber der unmittelbaren Förderung des steuerbegünstigten Zwecks in den Hintergrund treten” müsse (neue Fassung vom 12. Januar 2022 – zuvor: dass nur „im Einzelfall“ politische Tä­tigkeit möglich sein soll und diese „weit in den Hintergrund“ der gemeinnützigen Tä­tigkeit treten müsse).

Dabei lassen sich viele gemeinnützige Zwecke nur umfassend und effektiv durch die Beeinflussung der politischen Willensbildung erreichen. Da es hier auch um die Verwirklichung von Grundrechten wie Meinungsfreiheit (Art. 5), Versamm­lungsfreiheit (Art. 8), Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2) geht, för­dert diese Arbeit fraglos die Allgemeinheit. Gemeinnützige Organisationen fördern die Demokratie, wenn sie Menschen bei der Wahrnehmung ihrer Grundrechte unterstützen.

Eine gemeinnützige Organisation, die solche Zwecke verfolgt, kann Politik nicht nur nebenbei betreiben. Sie ist politisch und darf es sein, solange ihre Mittel und Ziele mit den Grundsätzen eines demokratischen Staatswesens, mit Respekt vor anderen Auffassungen, mit Gewaltfreiheit und mit dem Grundgesetz vereinbar sind und sie nicht Politik im Interesse nur einer politischen Partei macht.

Es braucht ein Gemeinnützigkeitsrecht, das der modernen Zivilgesellschaft und ihrer gesellschaftlichen und politischen Rolle Rechnung trägt.

Ein modernes Recht auf Gemeinnützigkeit

Wer der Allgemeinheit selbstlos dient, handelt gemeinnützig. Diese Kernaussage soll weiter im Mittelpunkt stehen. Es wird immer eine Debatte darum geben, welches konkrete Handeln der Allgemeinheit dient, auch weil sich die Gesellschaft entwickelt und neue Vorstellungen davon entstehen, was für das Zusammenleben wichtig ist.

Um Zivilgesellschaft in ihrer Breite abzubilden, sollten in einem neuen Gemeinnützigkeitsrecht die Funktionen von Zivilgesellschaft ausdrücklich anerkannt werden: Dienst­leistung, Themenanwaltschaft, Wächter, Selbsthilfe, Mittler, Solidaritätsstiftung und politische Erörterung.

Dabei darf der gesellschaftliche Nutzen nicht durch die Auflistung von sich wandelnden Themen beschrieben werden, sondern sollte darüber definiert werden, welche Entwicklung in einer Gesellschaft befördert werden soll, wie z.B. die nach Integration und Inklusi­on, nach Partizipation und Empowerment sowie nach sozialem Zusammenhalt und Subsidiarität.

Formale Kriterien würden dem Anspruch auf Gemeinnützigkeit vorausgehen: Selbstverständlich ist wie bisher Verfassungs- und Gesetzeskonformität von Satzung und Tätigkeit notwendig. Auch das bestehende Verbot, Überschüsse an Mitglieder oder Ei­gentümer zu verteilen, bliebe bestehen. Hinzu kämen Regeln für eine öffentliche Rechenschaftslegung. Die Gemeinnützigkeit sollte in einem öffentlichen Register geführt werden, etwa als Ergänzung zum Vereinseintrag. Diese Regeln dienen der Kontrolle durch eine demokratische Öffentlichkeit.

Zivilgesellschaftliche Organisationen sollen einen Anspruch auf Freistellung von Ertrags- und Vermögenssteuern haben. Diese Prüfung muss an zivilgesellschaftlichen statt steuerlichen Gesichts­punkten orientiert sein und bundeseinheitlich erfolgen.

(Siehe dazu auch unser Impuls zur Engagement-Strategie des Bundes vom November 2023.)

Erste Schritte zu mehr Rechtssicherheit

Die in der Allianz “Rechtssicherheit für politische Willensbildung” zusammenge­schlossenen  Organisationen verfolgen langfristig das Ziel eines modernen Gemeinnützigkeitsrechts. Dazu beteiligen sich die Mitglieder der Allianz an einer umfassenden Debatte über Ziele und Regelungen. Ihr erstes Ziel ist es aber, den unhaltbaren Zustand der Rechtsunsicherheit im bestehenden Rechtsrahmen abzuwenden. Siehe dazu die Forderungen!