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Themendossier Shrinking Spaces (Februar 2022)

Last updated on 16. Juni 2023

Dieser Text versammelt einige Beiträge zu Shrinking Spaces der vergangenen Monate, weil wir merken, dass auch ältere Berichte immer wieder aktuell werden. Shrinking Spaces ist der internationale Fachbegriff für den Versuch, den Handlungsspielraum zivilgesellschaftlicher Organisationen zu beschränken. Meist geht es um staatliche Mittel, um unliebsame Kritik zu begrenzen oder zu verbieten. Die Mittel können mal formal legal sein wie ein Gesetz, mal illegales Handeln staatlicher Organe. Zu Shrinking Spaces gehört auch fehlender staatlicher Schutz. Insbesondere, wenn der Schutz fehlt, können auch nichtstaatliche Akteure den Handlungsraum begrenzen, unter anderem durch Diffamierungen.

Weite Räume in Deutschland – aber…

Mit dem Gemeinnützigkeitsrecht soll eigentlich zivilgesellschaftliches Engagement gefördert werden. Doch in der Praxis beschränkt es Tätigkeiten oft, denn Gemeinnützigkeit ist nicht ein nettes Obendrauf, sondern ein Quasi-Standard. Anders als in vielen anderen Ländern weltweit gilt in Deutschland Vereinigungsfreiheit (Artikel 9 des Grundgesetzes). Die Freiheit ist sogar noch weiter als die Versammlungsfreiheit, die zwar keine Genehmigungen, aber Anmeldungen verlangt. Zusammenschlüsse müssen weder genehmigt noch angemeldet werden. Eine Eintragung beim Amtsgericht als Verein ist optional. Doch faktisch ist der gemeinnützige eingetragene Verein Standard und Voraussetzung. Und Ausschlüsse dort beschränken daher den Raum zivilgesellschaftlicher Tätigkeiten.

Dieses Phänomen wird weltweit “shrinking space” genannt. Die Verweigerung der Gemeinnützigkeit hat natürlich eine völlig andere Wirkung als ein Vereinsverbot oder die Verhaftung von Aktivist:innen. Dennoch gehören die Beschränkungen zu dieser Tendenz. Wir finden, dass Deutschland hier positiver Leuchtturm sein sollte anstatt schlechtes Beispiel für Regierungen in Ungarn, Polen oder Ägypten. Daher stellen wir in dieser monothematischen Infomail einige Infos zu dem Thema zusammen, auch über den deutschen Tellerrand hinaus. Ob der voraussichtlich morgen veröffentichte Koalitionsvertrag diesem Anspruch nachkommt, werden wir sehen.

EU-Kommission besorgt über deutsches Gemeinnützigkeitsrecht

“Die Zivilgesellschaft spielt eine zentrale Rolle im System von Kontrolle und Gegenkontrolle. … Ein förderlicher Rahmen für die Zivilgesellschaft ermöglicht Debatten und die Kontrolle der Regierungsverantwortlichen, und wenn ihr Handlungsspielraum eingeengt wird, ist dies als Zeichen zu sehen, dass die Rechtsstaatlichkeit gefährdet ist”, erklärt die EU-Kommission ihr Verständnis von Zivilgesellschaft im Rechtsstaatlichkeitsbericht 2021.

In Deutschland ist dieser Anspruch nicht vollständig umgesetzt, stellt die EU fest: “Die Unsicherheit hinsichtlich des Steuerbefreiungsstatus gemeinnütziger Organisationen” in Deutschland könne dazu führen, dass zivilgesellschaftliche Organisationen “davon absehen, zu potenziell sensiblen Fragen Stellung zu nehmen”, vor allem im Bereich Menschenrechte und Demokratie.

Mehr dazu…

Ruf nach Aberkennung der Gemeinnützigkeit als verkappte Verbotsforderung

Wer nach Aberkennung der Gemeinnützigkeit ruft, will dieses Recht oft als Spezial-Strafrecht nutzen; will also ein Gesetz zur Beschränkung von Handlungsmöglichkeiten nutzen. Viele meinen mit der Forderung eigentlich: Verbieten. Solche Rufe im Netz landen durchaus in der physischen Realität mit Drohungen und körperlichen Angriffen. Die Rufenden überspringen munter mehrere Stufen auf einer Eskalations-Treppe, unter anderem:

  • Ich kritisiere, was der Verein tut.
  • Ich werde diesen Verein nicht mehr unterstützen, ihm kein Geld mehr spenden.
  • Ich rufe andere auf, ihre Unterstützung zu entziehen, den Verein zu boykottieren.

So ähnlich geschehen im Anfang Februar 2022 als Reaktion darauf, dass LobbyControl seine Meinung zum Wechsel einer NGO-Fachfrau in die Bundesregierung äußert. Von Fragen über Kritik springen die Rufe zur Diffamierung und Delegitimation.

Regelmäßig wird auf Social-Media-Plattformen gerufen, die Gemeinnützigkeit von Greenpeace oder der Deutschen Umwelthilfe abzuerkennen. Aus unserer Sicht sind Rufe nach Aberkennung der Gemeinnützigkeit der Versuch, Handlungsspielräume zu begrenzen. Dass das Gemeinnützigkeitsrecht dafür Ansätze schafft statt die Räume zu erweitern und zu sichern, ist Teil von Shrinking Spaces. Klarstellungen im Gemeinnützigkeitsrecht wären ein Gegentrend für weite und sichere Handlungsräume.

In Deutschland tut sich neben der AfD leider auch die CDU dabei negativ hervor – mit Parteitagsbeschlüssen gegen die Deutsche Umwelthilfe (DUH) im Dezember 2018 und verbalen Schüssen gegen Greenpeace etwa im Sommer 2021.

Förderprogramme als Teil polizeilicher Ordnung

Mit “Extremismusprävention als polizeiliche Ordnung” beschäftigt sich Julika Bürgin, Professorin am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt, im gleichnamigen Buch, das im Oktober 2021 erschienen ist. Zu ihren Schwerpunkten gehört politische Bildung.

Sie analysiert, dass Bildungsarbeit präventionspolitisch eingehegt und in eine “polizeiliche Ordnung” eingepasst werde. Ab Seite 107 geht es um das Recht der Gemeinnützigkeit (“zur unmöglichen Gegenüberstellung von Staat und Zivilgesellschaft”). Julika Bürgin kommt zum Schluss: “Steuerlich belohnt werden politische Zurückhaltung, Konformismus und politische Abstinenz, was nicht unpolitisch ist, sondern das Bestehende stützt. Vereine, die – ganz im Sinne des Demokratieprinzips – gemeinnützige gesellschaftliche und politische Veränderungen anstrengen, sind behindert oder sogar in ihrer Existenz bedroht.”

Bericht zur Lage der Zivilgesellschaft in Deutschland

Das Maecenata Institut hat im Februar 2022 einen ausführlichen Bericht zur Lage und den Rahmenbedingungen der Zivilgesellschaft in Deutschland veröffentlicht. Ausgehend von insgesamt positiven Befunden steht die Sorge um einen sich verengenden Handlungsraum im Mittelpunkt. Die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts, die Folgen der Corona-Pandemie für die Zivilgesellschaft oder die Rolle der Engagementpolitik werden abwägend beleuchtet.

Broschüre “Shrinking Spaces – Schrumpfende Räume für die Zivilgesellschaft” erschienen

Der Stadtjugendring Potsdam und der MitMachen e.V. haben mit den Erkenntnissen einer Veranstaltungsreihe aus dem Jahre 2021 zu Shrinking Spaces die Broschüre “Shrinking Spaces – Schrumpfende Räume für die Zivilgesellschaft” erstellt, die kostenlos zum Download steht.

Darin finden sich unter anderem konkrete Beispiele der Angst zivilgesellschaftlicher Organisationen vor rechtlichen Folgen und ein Beitrag von Annika Schmidt-Ehry zum Gemeinnützigkeitsrecht als beschränkendem Faktor. Siri Hummel (Maecenata Institut) erläutert das Konzept “Shrinking Spaces”. Veranstaltungsreihe und Broschüre reagieren darauf, dass viele Vereine und Initiativen Erfahrungen mit Shrinking Spaces machten, ohne dies so benennen zu können. Die Broschüre soll helfen, das Phänomen besser zu verstehen und entsprechende Strategien zu identifizieren.

“Ausländische Agenten” im Gemeinnützigkeitsrecht

Von Deutschland heraus wird zu Recht die russische Regel kritisiert, dass sich Organisationen und Journalist:innen als “ausländische Agent:innen” bezeichnen müssen, die Geld aus dem Ausland erhalten und die mit ihrer Arbeit auf das staatliche Handeln einwirken. Hier wird durch öffentliche Delegitimation zivilgesellschaftlicher Raum beschränkt. Der Staat kontrolliert. Ebenso in Ungarn: Dort legte 2017 ein “Transparenzgesetz” fest, dass Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) sich als “aus dem Ausland unterstützte Organisation” registrieren lassen müssen, wenn sie mehr als 20.000 Euro aus dem Ausland erhalten. Dann müssen sie jede einzelne Auslandsspende ab 1.500 Euro offenlegen. 2020 erklärte der Europäische Gerichtshof, dass dieses Gesetz gegen EU-Recht verstößt.

In Deutschland beantragte Bayern 2018 im Bundesrat, dass gemeinnützige Organisationen “jede unmittelbare und mittelbare Finanzquelle gegenüber dem Finanzamt offenlegen und nachweisen müssen”, wenn “Finanzquellen außerhalb des EU/EWR-Raums mehr als ein Drittel ihres jährlichen Finanzbedarfs decken”. Dies sollte eine “Erweiterung der Voraussetzungen für die Anerkennung und Beibehaltung des Gemeinnützigkeitsstatus” sein. Der Antrag wurde im Bundesrat nie behandelt.

Ohne ausländische Spenden hervorzuheben, verpflichtet das Lobbyregister ab 2022 Organisationen unabhängig vom Rechtsstatus Zuwendungen ab 20.000 Euro offenlegen, wenn die Organisationen direkt auf die Willensbildung von Bundestag oder Bundesregierung Einfluss nehmen – egal, ob das Geld aus dem In- oder Ausland stammt. Mit dem ab 2024 geplanten Gemeinnützigkeitsregister sind keine finanziellen Transparenz-Pflichten vorgesehen, wohl aber soll aufgeführt werden, ob ein Verfassungsschutz-Amt die Organisation als extremistisch einstuft.

Europäische Flüchtlingshilfe: Engagement wird kriminalisiert

November 2021: Obwohl der Europäische Gerichtshof die Kriminalisierung der Flüchtlingshilfe in Ungarn für rechtswidrig erklärt, wird die Unterstützung von Geflüchteten in Europa immer mehr verhindert und strafrechtlich verfolgt. Diese Beschränkung zivilgesellschaftlichen Handelns hat tödliche Folgen, beschreibt Christine Meisler von Brot für die Welt in einem Blogbeitrag.

EU-Mindeststandards für Gemeinnützigkeit

Wer sich innerhalb der EU über Ländergrenzen hinweg engagieren möchte, findet bisher keine passende Rechtsform dafür. Dies möchte Sergey Lagodinsky, Mitglied des Europäischen Parlaments, ändern. Im Februar 2022 hat das EU-Parlament seinen Bericht diskutiert, mit dem er einerseits die Einführung eines europäischen Vereinsstatuts empfiehlt und andererseits einen Entwurf für einen Mindeststandard für die Mitgliedsländer. Diese Mindeststandards könnten positive Impulse nach Berlin zur deutschen Gemeinnützigkeits-Debatte senden.

EU-Rechtsgutachten zur Teilhabe zivilgesellschaftlicher Organisationen

Der Entzug der Gemeinnützigkeit wegen politischer Einmischung kann ein Eingriff in die von der EU garantierten Freiheitsrechte sein, stellt Prof. Dr. Dr. Patricia Wiater fest, Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht (Schwerpunkt Grund- und Menschenrechtsschutz) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. In einem Rechtsgutachten im Auftrag der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) kommt sie zu dem Schluss, dass die EU-Grundrechtecharta und die Europäische Menschenrechtskonvention eine politische Teilhabe für zivilgesellschaftliche Organisationen garantieren. In Deutschland kann NGOs und Vereinen bei politischer Betätigung jedoch der Gemeinnützigkeitsstatus entzogen werden.

Der Staat greife damit sowohl in die Finanzierung der Organisation wie auch in ihre öffentliche Anerkennung ein. Wenn das Gemeinnützigkeitsrecht wegen politischer Betätigung Unterschiede zwischen Organisationen macht oder sie schlechter stellt, sei das ein Eingriff in politische Freiheitsrechte. Das Gutachten wurde im Oktober 2021 veröffentlicht.

Weitere Infos…

Report zu Advocacy-Arbeit

Der Verband Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe (Venro) hat Anfang 2022 einen “NRO-Report zu Advocacy-Arbeit in der zivilgesellschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit” veröffentlicht. Darin werden 13 Beispiele vorgestellt, wie entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisationen sich in Politik und Gesellschaft einmischen, um wirkungsvoll Strukturen zu verändern. Davor stehen zehn Seiten interessante Einführung und Einordnung zu “Advocacy-Arbeit als wichtiges zivilgesellschaftliches Werkzeug”.

Darin werden flexiblere Förderbedingungen für Advocacy-Arbeit gefordert, Shrinking Spaces als besondere Herausforderung erwähnt und Gegenstrategien beschrieben: “Die NRO im Globalen Süden haben weniger Probleme mit staatlichen Stellen, wenn sie als soziale Dienstleistungsorganisation auftreten, anstatt zu Menschenrechtsfragen oder Gerechtigkeitsthemen zu arbeiten. Viele bleiben deshalb mit ihren politischen Aktivitäten strategisch unter dem Radar und wählen für ihre Kommunikation nach außen weniger politische oder kritische Themen.” Nur ein Problem des globalen Südens?

Terminhinweis 11./12.3.2022: Tagung Gewaltfreiheit und Shrinking Spaces

Der Bund für Soziale Verteidigung (BSV) lädt für den 11. und 12. März zur Online-Tagung über “Gewaltfreier Widerstand in repressiven Zeiten” ein. Es geht um zivile, gewaltfreie Widerstandsbewegungen gegen repressive Regierungen. “Es gilt weiterhin, dass seit 1900 über 50% der gewaltlosen Bewegungen, die ein Regime gestürzt oder territoriale Souveränität erkämpft haben, erfolgreich waren”, schreibt der BSV. Doch die ihre Erfolgsquote sei – ebenso wie die gewaltsamer Aufstände – von 2010 bis 2019 drastisch gesunken. In der Tagung wird das Konzept der Shrinking Spaces behandelt, Beispiele aus der Arbeit verschiedener Organisationen diskutiert und überlegt, was Menschen hierzulande zum Schutz von Aktivist:innen anderenorts tun können.

Weitere Veröffentlichungen

…im Zusammenhang mit “Shrinking Spaces”: