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Rückblick auf 2019

Last updated on 9. März 2020

Spätestens das Attac-Urteil des Bundesfinanzhofs hat vergangenes Jahr die großen Probleme in der Gemeinnützigkeit auf die öffentliche und politische Tagesordnung gesetzt. Einen Gesetzesentwurf gibt es noch immer nicht. Dennoch passierte 2019 so viel zu Gemeinnützigkeit – manchmal wird erst im Rückblick die Dimension deutlich.

Das Attac-Urteil und die fehlenden Klarstellungen im Gesetz sind eine Bedrohung für viele gemeinnützige Vereine und Stiftungen, die sich für ihre Satzungszwecke auch mit politischen Mitteln einsetzen. Tatsächlich wurden 2019 mindestens zwei Vereinen mit ausdrücklichem Bezug auf das Attac-Urteil die Gemeinnützigkeit entzogen: Campact und dem Demokratischen Zentrum Ludwigsburg.

Doch die Folge dieser Bedrohung ist seltener, dass Vereine ihre Tätigkeiten verändern und damit wichtiges Engagement für Demokratie und Gesellschaft ausbleibt. Eher rückt die Zivilgesellschaft enger zusammen. Immer mehr Organisationen trauen sich nun, mit ihrer Sorge um den eigenen Gemeinnützigkeits-Status an die Öffentlichkeit zu gehen. Probleme mit der Gemeinnützigkeit wegen politischer Einmischung sind kein individuelles Problem mehr. Wer damit an die Öffentlichkeit geht, gilt nicht mehr als aussätzige Organisation, sondern als Opfer eines zu engen Rechts, eines zu engen Handlungsraums der Zivilgesellschaft. Es wird deutlich, dass die von uns beschriebenen Probleme nicht nur ein oder zwei Vereine betreffen, sondern eine große Zahl.

Entwicklungen in der Debatte um Gemeinnützigkeit für politisch tätige Orga­nisationen seit dem Attac-Urteil des Bundesfinanzhofs

26.2.2019: Der Bundesfinanzhof (BFH) veröffentlicht sein Urteil vom 10.1.2019 zur Gemeinnützigkeit von Attac. Das Urteil bestätigt, dass gemeinnützige Vereine zum Zwecke der politischen Bildung und Volksbildung politische Forderungen (auch zur Ta­gespolitik) erarbeiten dürfen. Jedoch sei nicht erlaubt, “die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung im Sinne eigener Auffassungen zu beeinflussen”. Politi­sche Bildung müsse “in geistiger Offenheit” vollzogen werden. Konkrete Zwecke wie Umweltschutz oder Völkerverständigung sind vom Verbot, mit Forderungen öffentlich aufzutreten, nicht betroffen. Anders herum gesagt: Die Förderung politischen Engage­ments ist nur noch zu den 25 Zwecken in der Abgabenordnung als gemeinnützig aner­kannt.

18.3.2019: Campact gibt bekannt, ab sofort keine Spendenbescheinigungen mehr auszustellen.

22./24.5.2019: Bei der Finanzministerkonferenz in Berlin wird das Thema Gemein­nützigkeit kontrovers diskutiert. Bis Ende 2019 sollen Fragen der Rechtssicherheit und des politischen Engagements gemeinnütziger Organisationen geprüft werden, zu de­nen es noch keinen Konsens gibt. Einzelne Minister*innen positionieren sich offensiv mit weitergehenden Forderungen.

Juni 2019: Das Bundesfinanzministerium veröffentlicht das Attac-Urteil des BFH im Bundessteuerblatt. Dies gilt als Anordnung für die Finanzämter, das Urteil anzuwen­den.

5.6.2019: Dem CDU-nahen Verein cnetz, der sich für Digitalisierung einsetzt, wurde – wie jetzt erst bekannt wird – im März die Gemeinnützigkeit entzogen. Als Begründung wird das politische Engagement des Vereins genannt. Die CDU NRW listet den Verein als parteinahe Organisation auf seiner Webseite.

21.6.2019: Der BUND präsentiert einen Gesetzesentwurf mit konkreten Änderungs­vorschlägen zur Reform des Gemeinnützigkeitsrechts, der auch die Forderungen der Allianz aufgreift.

20.9.2019: Der Bundesrat regt Änderungen im Gemeinnützigkeitsrecht an. Diese umfassen jedoch nur die Aufnahme von Freifunk als weiteren gemeinnützigen Zweck und einfachere Möglichkeiten für gemeinnützige Vereine, Geld an andere gemeinnützi­ge Organisationen weiterzugeben.

26.9.2019: Fachtagung zum Gemeinnützigkeitsrecht mit 200 Teilnehmer*innen aus zivilgesellschaftlichen Organisationen, Finanzverwaltung, Wissenschaft, Politik und Steuerberatung, organisiert von der Allianz und der Gesellschaft für Freiheitsrechte.

26.9.2019: Die Landesfinanzminister*innen fordern, fünf neue gemeinnützige Zwe­cke in die Abgabenordnung zu schreiben, darunter auch Klimaschutz.

21.10.2019: Campact gibt bekannt, dass ihnen die Gemeinnützigkeit entzogen wur­de. Als Begründung führt das Finanzamt an, dass Campact überwiegend allgemeinpo­litisch tätig gewesen sei und Kampagnen zu Themen durchgeführt habe, die keinem gemeinnützigen Zweck der Abgabenordnung zugeordnet werden können. Das Finanz­amt bezieht sich ausdrücklich auf das Attac-Urteil.

22.10.2019: Olaf Scholz kündigt als Reaktion auf den Fall Campact eine Gesetzesre­form an – was nur scheinbar eine klare Aussage zum Gemeinnützigkeitsrecht ist.

30.10.2019: Zwölf Dachverbände legen eine gemeinsame “Charta für Zivilgesell­schaft und Demokratie” vor, um auf die die Bedeutung einer unabhängigen Zivilgesell­schaft für eine lebendige und starke Demokratie hinzuweisen. Darin fordern sie auch eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts.

11.11.2019: Das Demokratischen Zentrum Ludwigsburg – Verein für politische und kulturelle Bildung (DemoZ) gibt zusammen mit der Allianz “Rechtssicherheit für politi­sche Willensbildung” und der Gesellschaft für Freiheitsrechte auf einer Pressekonfe­renz bekannt, dass dem Verein die Gemeinnützigkeit entzogen wurde. Das Finanzamt wirft dem DemoZ fehlende “geistige Offenheit” vor, weil sich der Verein mit seinen Veranstaltungen politisch positioniere und Rechtsextreme von seinen Veranstaltungen ausschließe. Das Finanzamt folgt damit dem Attac-Urteil des BFH.

14.11.2019: Die Landesfinanzminister bekräftigen ihre bisherigen Beschlüsse zur Ge­meinnützigkeit. Zu Fragen der politischen Einmischung haben sie noch keine Position.

22.11.2019: Die Bundesvereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Anti­faschisten (VNN-BdA) gibt bekannt, dass ihnen das Finanzamt Berlin bereits am 4.11.2019 die Gemeinnützigkeit entzogen hat. Begründung: Der Verfassungsschutz Bayern erwähnt die VVN-BdA als “linksextremistisch beeinflusst”.

22.11.2019: Das Magazin “Der Spiegel” veröffentlicht Überlegungen aus dem Finanz­ministerium, die Möglichkeiten für Vereine, die sich politisch engagieren, weiter einzu­schränken: Vereine dürften sich danach zwar politisch äußern, aber nur, wenn es ihrem Vereinszweck dient. Die Absicht, politische Parteien oder die staatliche Willens­bildung zu beeinflussen, müsse dabei “weit in den Hintergrund” treten. Nach heftiger Kritik zieht Olaf Scholz die Pläne in der folgenden Woche zurück.

13.12.2019: Der Spiegel meldet, auch dem Change.org-Verein solle die Gemeinnüt­zigkeit entzogen werden. Das Finanzamt argumentiert, dass es bei der Unterstützung einzelner Petitionen um “überwiegend politische oder gar Einzelinteressen” gehe. Dies falle nicht unter den Zweck der Förderung des demokratischen Staatswesens.